Neue Geschichten jeden Dienstag und Freitag.

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Eigentlich ist es zum Verrücktwerden. Vor bald einem Jahr wurde ich offiziell als dement diagnostiziert und es verschlechtert sich alles leider schneller als erhofft. Ich bin ja eher jung dafür, aber es trifft offenbar auch Leute, die nicht dem Bild der verwirrten Greisin im Pflegeheim entsprechen. Ich vergesse viel, und wenn ich etwas erzählen will, fallen mir die Worte nicht ein, darum braucht meine Freundin, die diese Geschichte aufschreibt, viel Geduld mit mir. Etwas wie ein Mail kann ich nur noch mit grösster Mühe selber schreiben. Und, das ist für mich ganz besonders schlimm, ich habe meinen Geschmackssinn verloren. Mein Arzt sagt, ich dürfe mich nicht aufregen, aber probier das mal!

Immerhin, ich koche fast jeden Tag. Ich weiss halt noch, wie es geht. Wenn mein Mann sagt, er hätte gerne Tomatenreis, dann geht das ganz automatisch und ruck, zuck, und ich vergesse auch die Zwiebeln nicht anzudünsten, obwohl der Mann das meint. Wenn ich aber irgendwo ein neues Rezept finde, dann mache ich das so: Ich schreibe es auf einem grossen Zettel auf, mit grossen Buchstaben. Und dann lese ich nach jedem Schritt nach, ob ich es bis da richtig gemacht habe und was der nächste Schritt ist. Wegen den grossen Buchstaben muss ich nicht jedes Mal die Brille suchen. Meistens wird es sehr fein, sagt mein Mann, obwohl ich das Essen nicht abschmecken kann. Vielleicht muss er ein bisschen nachsalzen, weil ich da eher vorsichtig bin, aber das ist ja kein Problem. Kürzlich waren wir in der Altstadt spazieren und haben bei einer französischen Bäckerei etwas gekauft, ich kann beim besten Willen nicht sagen, wie das Ding hiess. Jedenfalls war es wie ein kleines Wunder: Ich habe tatsächlich etwas geschmeckt, es war süss, es war etwas mit Honig!

Ich zahle meine Rechnungen noch selber. Aber letztens habe ich tatsächlich den PIN vergessen. Ich studierte und studierte, aber ich wusste nur noch die drei ersten Zahlen. Ich habe diesen PIN schon ewig. Und dann habe ich es einfach probiert und stell dir vor, meine Finger kannten das Muster! Zum Glück hilft mir einer meiner Söhne bei den Finanzen. Wenn ich etwas nicht verstehe, kommt er am Freitag und erledigt die Sache mit mir zusammen. Er ist so ein Schatz.

Am liebsten arbeite ich ein bisschen im Garten, zum Glück ist endlich das Wetter besser. Ich habe dafür ein herziges Sitzli mit Rädern, wir haben das am Flomi gefunden und es ist sehr bequem. Im Garten weiss ich ganz genau, was ich tun muss, was jäten und was pflegen. Und die Hände wissen auch noch gut, was und wie sie es machen müssen.

Es sieht schön aus bei mir im Garten.

Seit ich diese Geschichte erzählt habe, sind schon ein paar Wochen vergangen und es ist tatsächlich ein Wunder passiert. Dank einer neuen Dosierung der Medikamente geht es mir recht gut und ich kann wieder besser sprechen.

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Die meisten Geschichten entwickeln sich in einem Gespräch und wir schreiben sie auf. Manche Geschichten werden uns zugeschickt, auf Einladung oder spontan. Bislang haben wir die Geschichten nicht systematisch gesucht – sie ergeben sich durch spontane Kontakte, Empfehlungen und Zufälle.

Die Geschichten widerspiegeln nicht immer unsere Meinung; und die Geschichtenerzählerïnnen sind wohl auch nicht immer einer Meinung.

Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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