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Die Dinger stehen überall in der Stadt verstreut. Am Anfang dachte ich, was ist das denn hier? Mein Freund sagte Insektenhotel, aber dann schaute ich nach und es war ein Wurmhotel. Ein Wurmhotel ist ein Kompostkasten für Grünabfälle aus der Küche. Da sind eine Art Regenwürmer drin, die essen die Abfälle und setzen sie in Hummus um. Hier in Amsterdam gibt es riesengrosse solche Wormenhotels, für ganze Quartiere, wo die Bewohner ihren Biomüll entsorgen können. Es ist ein Riesending. Es gibt in der Nähe sogar eine Art Bauernhof, der diese Würmer züchtet.

Ich habe im Internet geschaut, wie das Ganze funktioniert, und mir dann aus Holz ein eigenes Wurmhotel für meine Wohnung gebaut. Ich bin zwar Psychologin, aber die Arbeit mit den Händen liebe ich einfach. Mein Wurmhotel besteht aus Kisten, die man aufeinanderstapeln kann. Man wirft einfach oben die Überreste auf die Würmer, zum Beispiel Kartoffeln, Kohlrabi, Obst, Gemüse, Salat, ganz vieles kann da rein. Theoretisch sogar Socken oder Bambuszahnbürsten, dafür brauchen die Würmer dann aber extrem lange. Wenn sie in der unteren Kiste alles zersetzt haben, können sie durch ein Gitter in die nächste Kiste hochkriechen und weiteressen. Es ist schon interessant, wenn ich eine Kiste komplett fülle, ist sie eine Woche später zur Hälfte weg. Und eine Woche später komplett. Den Hummus verwende ich für meine Zimmerpflanzen oder für Pflanzen auf der Strasse. Ich produziere so viel weniger Biomüll, der hier in Amsterdam leider in den Allgemeinmüll fliegt. Und ich muss überhaupt keinen Pflanzendünger mehr kaufen. Unter den Kisten gibt es einen kleinen Auffangbehälter für die Feuchtigkeit, die runtertropft. Man nennt das Wurmtee und verwendet es als Flüssigdünger.

Mein Freund fand das am Anfang eklig, also habe ich das Wurmhotel in den Vorratsraum gestellt, ausser Sicht. Auch meine Freundinnen fanden das eklig, als sie das erste Mal davon gehört haben.  Aber es stinkt überhaupt nicht. Und die Würmer sind extrem lichtscheu, meistens sind sie gar nicht direkt an der Oberflächen, man hat mit ihnen gar nicht wirklich zu tun. Und eigentlich sind Würmer doch auch nicht eklig, sondern extrem wichtige Helfer in unserem Ökosystem.

Die Würmer vermehren sich unglaublich schnell. Man fängt mit einer Startpopulation an und innerhalb eines Monats verdoppeln sie sich. Meine ersten Würmer habe ich von einem der grossen Wurmhotels. Ich habe da einfach nachgefragt, ob ich ein paar haben kann, das war kein Problem. Und so hat man dann ein ganz eigenes Ökosystem im Haus. Man muss allerdings aufpassen, dass es nicht aus der Balance gerät. Anders als in der Natur können die Würmer hier ja nicht einfach abhauen, wenn sie sich nicht wohl fühlen. Meine erste Wurmkiste hatte auf einmal keine Würmer mehr drin. Ich hab zu spät gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Ich war richtig geschockt, hatte ein extrem schlechtes Gewissen, all die armen Würmer. Es war wohl zu heiss, zu nass, zu sauer, alles Mögliche. Am Anfang dachte ich, ein paar Würmer, alles rein und zack, aber ne. So ist es eben auch in der Natur, wenn das Ökosystem ausser Balance ist, sterben die Böden auch.

Seit da schaue ich genau auf die Balance. Wenn’s zu feucht ist, gebe ich Papier oder andere Zellulose dazu, wenn es stinkt, eine Kalkmischung aus kleingehackten Eierschalen, wenn es zu trocken ist, Gurken oder Tomaten oder auch einfach ein bisschen Wasser. Einmal sagte mir jemand, Würmer fühlen sich da wohl, wo wir uns auch wohl fühlen. Es ist schon lustig, wir haben häufig einfach überhaupt keine Ahnung, wie es in der Natur funktioniert. Ich bin eigentlich gar nicht so besonders ein Naturmensch. Aber in der letzten Zeit habe ich ein anderes Bewusstsein entwickelt. Wenn ich einen Regenwurm sehe, kuck ich da schon anders drauf.

Geschichte gesammelt im stories for future internationalen Pilotprojekt.

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Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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