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Am Anfang war für mich die Frage: Was will ich mit meinem Leben machen? Innerhalb des Rahmens, den wir heute in der Schweiz haben, wie kann ich das meiste daraus machen, am meisten etwas bewirken, das positiv ist, das mein Leben erfüllt? Ich kam zum Schluss: Dort, wo ich aufgewachsen bin, kann ich am meisten bewirken. Ich kenne die Leute, die Geographie, die Lehrer, die Beamten, alles. Dort bin ich am besten vernetzt, das Klima passt mir, ich bin dort in die Schule, meine Kollegen sind dort. So fand ich, ich mache dort mein Lebensprojekt. Vielleicht gehe ich mal für einen Monat oder ein Jahr woanders hin, um Erfahrungen zu sammeln oder eine Ausbildung zu machen. Aber längerfristig möchte ich ins Jura zurück, weil ich dort am meisten bewirken kann.

Mein Zuhause ist eine Gemeinschaft auf einem Bauernhof, zehn Erwachsene plus zwei Kinder, im Sommer kommen noch zwei Erwachsene und zwei Kinder dazu. Das Bauernhaus wurde zu diesem Zweck 1987 gekauft und ich bin dort aufgewachsen. Die Leute bleiben zwei Wochen, zwei Monate, zwei Jahre oder zwanzig Jahre … Manche arbeiten viel auf dem Hof, andere machen Politik oder sind aktiv im Verein. Aber alle haben gewisse Tätigkeiten auf dem Hof, mit den Bienenstöcken, beim Ackerbau, Holzfällen, Kochen, Putzen …

Ich wusste immer, ich möchte in einer Gemeinschaft leben. Ich überlegte mir, was für eine Gemeinschaft möchte ich bilden, wie soll sie aussehen, was kann ich persönlich einbringen? Ich bin nun im letzten Jahr meines Medizinstudiums in Zürich. Als Arzt kann ich einer Gemeinschaft nützlich sein. Auch viele meiner Freunde haben sich diese Überlegungen gemacht; sie lernen nun Dinge wie Architektur, Maschinenbau, Naturmanagement, Umweltwissenschaft, Winzer, Landwirt, Schreiner, Koch.

Die Talgemeinschaft ist mein Lebensprojekt. Gemeinschaft drückt sich über ganz verschiedene Dinge aus, gemeinsam zu arbeiten, gemeinsam zu essen, sich gemeinsam zu organisieren … Wir haben Ideen wie gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, Zusammenarbeit und horizontale Strukturen. Und wir machen ganz konkrete Dinge wie einen Obstgarten anpflanzen. Medizin, Nahrung, Wasser, Energie: Mit diesen Dingen wollen wir uns in unserem Tal selbst versorgen können. Wissen, zum Beispiel über Pflanzen, Böden, Psychologie oder Pädagogik, dafür braucht es vielleicht eine eigene Schule, einen Ort, wo man lernen kann. Mensch kann ja auch eine Weile aus dem Tal weggehen, etwas lernen und wieder zurückkommen, so wie ich jetzt mit dem Medizinstudium. Die Talgemeinschaft stelle ich mir offen vor, so wie die Zelle eines Körpers.

Wir sprechen viel mit den Leuten aus dem Dorf, was sie spannend finden, wie fest sie sich im Projekt engagieren wollen. Es ist wichtig, Grenzen zu respektieren. Es gibt ja auch Leute, die haben keine Lust, mit anderen Leuten im gleichen Haus zu leben. Das ist ganz normal, manche Leute brauchen eben mehr Ruhe und Platz, haben andere Bedürfnisse. Es kann nicht für alle das Gleiche sein. Deshalb kann es innerhalb der Talgemeinschaft auch verschiedene Arten von Gemeinschaften geben und auch Leute, die lieber alleine wohnen, können sich beteiligen, wenn sie möchten. Das Projekt ist etwas Lebendiges und entwickelt sich immer weiter.

Unabhängig vom Projekt der Talgemeinschaft gibt es auch heute schon viele gute Dinge im Dorf. Zum Beispiel die Sägerei, die wichtige Bauteile liefert, oder Vereine, die sich für das Leben des Dorfes engagieren: Musikfestivals, Spielabende, historische Dorfführungen …  Das sind alles Projekte, die ebenfalls zum Ziel haben, dass sich wieder eine stärkere Dorfgemeinschaft bildet.

Die Leute reagieren sehr positiv auf das Projekt, es ist sehr viel positive Energie vorhanden. Es kommen viele Leute aus Interesse von ausserhalb vorbei, auch gute Freunde aus Zürich. Auch die Leute aus dem Dorf und aus der Umgebung finden es mega cool und möchten wissen, was die Gedanken dahinter sind. Das ist ja auch ihr Lebensraum und daran ist man grundsätzlich interessiert. Im Dorf leben ganz unterschiedliche Leute und dadurch ergibt sich automatisch eine grosse Vielfalt im Austausch. Gerade dieser vielfältige Austausch mit verschiedenen Leuten macht das Projekt so positiv und auch anders als Projekte mit Leuten, die sich sehr ähnlich sind. Ich habe natürlich eine eigene Vorstellung, wie sich das Projekt entwickeln könnte. Aber schlussendlich muss es einfach für die Leute, die dort leben, stimmen. Ich habe keinen Willen, etwas aufzuzwingen. Zwang kann nicht positiv sein. Ich kann Impulse geben, Themenabende organisieren. Der Prozess ist viel wichtiger als das Zielbild, das ändert sich ja ständig. Es geht darum, das Leben und die Vielfalt zu verbessern.

Was macht mich glücklich? Das Leben, gut essen, mich mit Freunden treffen, mein Medizinstudium, Velo fahren, Fantasy-Bücher lesen, Sonne, Regen; viele Leute, das Leben und seine Entwicklung. Ich möchte das auch so. Wenn ich traurig sein wollte, könnte ich das sicher auch, könnte denken, die Welt ist schlecht und ich kann nichts machen. Aber ich habe keine Lust, mein Leben zu verderben. Weil ich mich entschieden habe weiterzuleben, mache ich etwas möglichst Schönes draus.

Ich bin mir schon bewusst, dass ich in einer privilegierten Situation bin. Ich kann frei wählen, was ich studiere, wo ich wohne, mit wem ich mich treffe, ich habe Zugang zu allem. Als Schweizer Student kann mensch alles haben, ein Visum, ins Ausland fliegen … Wenn du Lust und Energie hast, geht alles. Diese Chance hat nicht jeder, nicht in der Schweiz, nicht in Europa, nicht auf der Welt. Ich bin auch privilegiert, weil ich in einer Familie mit guten Beziehungen bin.

Die Zukunft macht mir keine Angst. Sie kommt, ob ich will oder nicht. Ich möchte auch nicht zu fest über die Zukunft nachdenken, mensch lebt ja nur einmal. Man sollte jeden Augenblick geniessen, vielleicht sind wir morgen alle tot oder auch nicht. Die Gemeinschaft bietet mir die Möglichkeit und Sicherheit, zurückkehren zu können, wenn etwas nicht funktioniert. So habe ich viel grössere Freiheit und weniger Druck. Mit Angst zu leben habe ich keine Lust, ich sehe, wie einschränkend das ist. Ich bin überzeugt: Mensch hat immer die Wahl. Die Kunst ist, die Augen offen zu halten.

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Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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