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Anfangs war es vor allem schwierig sich gegenseitig zu finden. Es wusste gar niemand, dass unsere Gruppe existierte. Dann war es aber mega lässig, wie schnell viele Helfende dazukamen. Wir haben einen Flyer gemacht, den viele Freiwillige im Schnelltempo an allen Türen im Kreis 3 in Zürich aufgehängt haben, Strasse für Strasse. Zuerst haben wir die Hilfe über Facebook und Chat organisiert, das wurde aber schnell unübersichtlich. Also haben wir ein Formular erstellt, wo man sich eintragen konnte, wenn man Hilfe suchte oder Hilfe anbieten wollte. Ausserdem richteten wir ein Telefon ein, um auch für Menschen ohne Internet besser erreichbar zu sein. Es bildete sich ein Koordinationsgrüppli von zehn Frauen, in dem wir schauten, dass zu Bürozeiten immer jemand erreichbar war. Die Leute riefen an, «ich bräuchte jemanden zum einkaufen in den nächsten zwei Tagen». Ich schaute also in der Liste, wer in der Nähe wohnt, wer das übernehmen könnte. Das Ganze war, wie vieles in dieser Zeit, irgendwie surreal: Auf der einen Seite war ich zuhause fürs Studium am Lernen und auf der anderen hatte ich Telefondienst und habe Hilfeleistungen koordiniert.

Ich hatte ein Telefon mit einer Frau, das mich sehr berührte. Ich erklärte ihr, was wir tun und sie meinte: mega lässig, sie sei sehr einsam, normalerweise kämen ihre Kinder und Grosskinder zu Besuch und brächten ihr Blumen. Und so ein Blumenstrauss, das wär schon schön. Später rief sie wieder an und bedankte sich bei uns und sagte, wie sehr sie sich über die Farbe in der Stube freute. Es gab allgemein so viel Dankbarkeit, das habe ich früher weniger erlebt. Viele Leute riefen gar nicht in erster Linie wegen einem Grundbedürfnis an. Bei vielen Leuten fielen Sozialkontakte ganz weg. Sie hatten ein Bedürfnis, zu reden und wir versuchten, diese Möglichkeit zu geben. Eine ältere Frau erzählte, wie ihre Grosskinder einmal pro Woche mit dem Einkauf vorbeikämen, sie lasse vom Balkon einen Korb runter, dann schwatzen sie noch ein Halbstündli von oben. So schön, wie man sich trotz physischer Distanz nah bleiben kann, auch ohne Zoom und Skype. Ich gehe immer zur gleichen Zeit einkaufen und beim Nachbarshaus hat’s immer ein älteres Ehepaar, die freundlich grüssen. Ich habe in dieser Zeit das erste Mal wirklich mit ihnen geredet. Es macht so Freude, wenn jemand ohne besonderen Grund freundlich ist. Auch sonst bin ich mir meiner Nachbarn bewusster geworden. Wenn man feststeckt, fällt einem plötzlich auf, wie schön ein Spaziergang im Quartier ist, bei dem man noch mit einigen Nachbarn reden kann. Ich glaube, man ist sich auch sonst vielen Sachen bewusster geworden, weil man Zeit hatte über 100 Dinge nachzudenken. 

Ich fand die Solidaritätswelle sehr schön und ich hoffe fest, dass sie jetzt bleibt. Es geht ja nicht nur um die klassische Risikogruppe, sondern zum Beispiel auch um Leute, die keinen Job mit festem Vertrag haben, zum Beispiel Sans-Papiers. Es war extrem, wie viele Menschen die Essensausgaben in Zürich und Genf in Anspruch nahmen. Und was mir mega wichtig ist, dass man schafft, die Solidarität auszuweiten, nicht nur beim eigenen Grosi oder dem Grosi der Kollegin, auch auf Asylsuchende, Menschen in Lagern auf Lesbos, dass diese Solidarität nicht an der Landesgrenze haltmacht.

Mittlerweile kommen weniger Anfragen, die Telefonzeiten haben wir reduziert. Längerfristig ist die die Idee, dass es einfach über den Chat läuft. Wir arbeiten jetzt auch mit der institutionalisierten Nachbarschaftshilfe des Kreis 3 zusammen und ich hoffe, dass viele unserer Helferinnen sich dort anmelden und weitermachen. Mein Ideal für die Zukunft ist, dass auch die Anfragen breiter werden, dass die Leute sich auch melden, wenn sie eine Saftmaschine brauchen.

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Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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