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Für mich wäre ein voller virtueller Präsenzunterricht während dem Lockdown der totale Stress gewesen. Das wäre wie Schule ohne Schule machen. Man sieht sich in jeder Lektion, die im Stundenplan steht, und am Schluss gibt es Noten. Es wäre ein grosser Eingriff in die Privatsphäre, in die der Schülerinnen und auch in meine. Man müsste immer etwas zurechtmachen, den Raum, sich selber. Und es ist ja auch unwahrscheinlich, dass jedes Kind in der Familie daheim einen ruhigen Platz und einen Computer mit Kamera hat, und dass es jederzeit ungestört reden und zuhören kann.

Unsere Schulleitung hat es sehr gut gemacht. Es wurde gesagt: Ihr müsst zuerst runter- und dann langsam in angepasster Weise wieder rauffahren. Ich gebe Geschichte bei sieben Klassen mit etwa 200 Schülerinnen, auf drei Stufen. Ich habe jede Woche Aufgaben verteilt und war zu bestimmten Zeiten verfügbar für Fragen oder ein Gespräch. So hat es eigentlich ganz gut geklappt. Ich habe in Gruppen von vier bis fünf Leuten arbeiten lassen. Ich liess Freunde zusammenarbeiten. Das ist vielleicht etwas weniger effizient, weil sie sich dann, statt sich mit der Aufgabe auseinanderzusetzen und brillante Lösungen zu erarbeiten, über ihren Alltag unterhielten. Aber ich wollte eben nicht noch mehr Stress machen. Es war mir wichtiger, dass es ihnen so gut geht wie möglich.

Den wöchentlichen Auftrag bekamen die Schülerinnen in einem Format, das ich schon vor Corona entwickelt hatte. Es gibt eine Quellenbild und dann ungefähr zwei Seiten Text dazu. In der Corona-Zeit habe ich das ergänzt mit einer zusätzlichen Seite, wo ich die Schülerinnen direkt anspreche. Darauf ist ein gezeichnetes Portrait von mir selbst und eine handschriftliche Botschaft, wo ich etwas erkläre oder sie auch frage, wie es ihnen geht. Sie sollen mich als Person wahrnehmen und merken, dass ich mich um sie kümmere. Meine persönliche Seite war zuerst skizzenhaft, ein Strichmännli, später hat es dann einen inhaltlichen Bezug gegeben. Beim Blatt über die Christianisierung der Römer hat mein gezeichnetes Ich den römischen Legionsadler weggekickt und dafür das Zeichen der Christen in der Hand gehalten. Noch später habe ich mich in die Szene hineingemalt, ich war ein Germane auf der Völkerwanderung, wir wurden von den Hunnen angegriffen. Und dann habe ich die Quellenbilder in einem Video erklärt, wo ich den Kontext zeigte, wo hängt das Bild, wie gross ist es, und auf Details gezoomt, über die ich geredet habe.

Ich habe mir Mühe gegeben, alles schön zu gestalten und fand es selber ganz toll. Ich dachte, sie geben sich vielleicht dann auch Mühe bei ihrer Arbeit. Zuerst war ich etwas enttäuscht, dass sich niemand dafür bedankte. Aber dann merkte ich: Das ist ja nicht, was Schülerinnen machen. Sie kommen ja im Präsenzunterricht auch nicht und bedanken sich, schon gar nicht in der Gruppe. Warum sollten sie extra ein Mail schreiben? Und ich merkte, dass ich es eigentlich für mich mache, weil es mir Spass macht, weil ich gerne so unterrichte. Manchmal, wenn ich allein mit einem Schüler im Call war, kam dann tatsächlich auch noch ein Dankeschön.

Ich habe in der Lockdown-Zeit eine einzige Einzelaufgabe gestellt. Man hört ja oft «Wir erleben gerade Geschichte.» Also bat ich die Schülerinnen um eine Quelle. Was denkt ihr über diese Zeit, wie erlebt ihr sie? Es kamen Texte und Lieder, ein gehäkeltes Virus, verzierte Masken, aber auch ein berührender Brief einer Schülerin an ihren Grossvater im Spital, der vielleicht sterben würde, den man aber nicht besuchen konnte. Ich weiss nicht, was ich mit diesen Zeugnissen des Lockdown machen werde. Vielleicht nutze ich das eine oder andere aus dieser besonderen Sammlung in einem Jahr im Unterricht. Aber wer weiss, ​wie die Welt dann aussieht.

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Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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