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Wir wussten schon vor der Geburt meines zweiten Kindes, dass etwas nicht in Ordnung ist, aber nicht was. Das war eine wahnsinnige Last, die ich bis zur Geburt trug. Im Leben hast du vieles in der Hand, aber eben nicht alles. Du hoffst einfach, dass das, was du nicht in der Hand hast, dir gut gesinnt ist.

Meine Tochter kam abrupt und unschön auf die Welt, ich sah sie an und fand sie perfekt. Dann kam eine Hiobsbotschaft nach der anderen, motorische und kognitive Beeinträchtigung, wegen einer vorgeburtlichen Virusinfektion. Irgendwelche Ärzte sagen das in mitleidigem Ton. Aber du begreifst das nicht. Ich sah meine Tochter im Brutkasten, konnte sie in den Arm nehmen und nichts mit diesen Aussagen anfangen.

Die Gesellschaft macht all diese Schubladen, zu dick oder zu dünn, zu klein oder zu gross, behindert oder nicht behindert. Und die Ärzte sagen, diese oder jene Hirnstruktur ist nicht vorhanden, der Fachspezialist sagt, dieses und jenes geht nicht, passt nicht. Was machst du damit? Was heisst normal oder nicht normal? Das ist ein kleines Mädchen, das aus deinem Fleisch und Blut stammt und das du liebst. Es ist ein wenig anders, aber für unsere Augen ist es einfach unser Herzenskind und normal.

Die Pflege unserer Tochter ist mit brutal viel Aufwand verbunden. Das muss man nicht schmälern, es ist lebensfüllend. Eine Zeit lang wollte ich nicht mehr zu den Terminen, weil ich mich vor dem fürchtete, was schon wieder nicht in Ordnung ist. Es gab Zeiten, da war es so schwierig, da stellte ich mir die Frage, wie es wäre, wenn sie nicht mehr da wäre. Plötzlich war meine Tochter wegen einer starken Erkrankung mit kritischem Zustand im Spital und ich realisierte, das wäre die Hölle, wenn sie nicht mehr bei uns wäre. Es war unglaublich schön, erleichternd und erfüllend dies zu spüren. Unsere Tochter ist ein Teil von uns und unserem Lebensglück geworden.

Während Corona fielen alle Therapien meiner Tochter aus, ich hatte mega Schiss, dass diese Lücke ihre Entwicklung bremst. Und was ist passiert? Genau das Gegenteil, sie hat Gas gegeben. Vielleicht hatte sie vorher teilweise gar nie die Zeit, sich zu entfalten. Jetzt wird es immer spannender, mit zweieinhalb Jahren beginnt sie Charakter zu zeigen, ihren eigenen Willen. Sie hat es faustdick hinter den Ohren, macht Blödsinn, legt dich rein. Wenn sie nicht bekommt, was sie will, dann motzt sie. Sachen, die dich bei anderen Kindern vielleicht nerven würden, sind bei ihr toll, weil es fast ein Wunder ist, dass sie das tut. Ihre Stärke ist kommunizieren, aber noch ohne Worte, dafür mit einer umso ausgeprägteren Mimik. Und sie strahlt meistens, ist so zufrieden, wahnsinnig herzig, eine richtige Ulknudel, die alle Mitmenschen zum Lachen bringt. Sie ist ein Sonnenkind.

Das, was nicht gut ist, kennen wir ja. Das sind Fakten und die legst du irgendwann auf die Seite oder versuchst es gar nicht erst in den Vordergrund zu rücken. Und du hältst dich an dem, was sie dir zeigt, an den Fortschritten, die sie macht, an den Glücksmomenten. Ich wünsche mir das als Lebensweg, als Familienrezept, eine solche Glückseligkeit zu erreichen. Das ist ein Prozess, dem bin ich mir bewusst. Ich meinte häufig, jetzt kann ich nicht mehr, aber die Grenzen sich immer wieder neu verschoben. Man merkt, zu was ein Mensch alles fähig ist, wie belastbar du wirklich sein kannst.

Ich möchte mir nicht auf die Schulter klopfen, aber ich finde, ich habe es im Griff. Ich verstehe, was ich selbst als Mensch brauche, ich gebe mich nicht her, kremple nicht mein komplettes Leben um. Klar habe ich Zukunftsängste. Meine Tochter ist abhängig von uns und wird es auch in Zukunft sein, aber schlussendlich ist sie ein Individuum und ich bin ein Individuum.

Ich bin ein Typ, der Millionen Sachen in den Tag reinpacken kann, habe grosse Ansprüche an mich selbst: ich will gute Mutter sein, auch für meinen grösseren Sohn, den ganzen Haushalt schmeissen, eine gute Partnerin und eine super Arbeitnehmerin sein, nebenbei noch ein paar Hobbys und einen grossen Freundeskreis pflegen; ein Sibesiech. Meine Tochter ist dabei die beste Lebensschule: sie hat mir bewiesen und mich gelehrt, dass das so gar nicht geht. Sie hat mich gelehrt runterzufahren, den Perfektionismus und die ewige Hilfsbereitschaft dem ganzen Umfeld gegenüber etwas auf die Seite zu legen und Zeit für mich zu investieren. Ohne sie würde ich mir zum Beispiel den Freitag nicht für mich selber freinehmen. Weil ohne einen offiziellen Grund braucht es das ja vermeintlich nicht. Entweder man arbeitet oder betreut die Kinder mit Haushalt.

Als meine Tochter drei Monate auf der Welt war, sagte mir jemand etwas sehr Schönes: Glück definiert sich nicht daran, was dir das Leben gibt. Ihr habt jetzt eine grosse Herausforderung, aber es kann gut sein, dass ihr euch nun viel mehr auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben besinnt. Auf Grundwerte, Liebe, die Basis, vielleicht erlebt ihr das viel inniger und intensiver. Es kann gut sein, dass ihr eine viel glücklichere Familie sein könnt als eine Familie, die kerngesund ist. Das hat mich damals wahnsinnig beeindruckt und aufgewühlt, aber jetzt, nach zweieinhalb Jahren, beginne ich es wirklich zu verstehen.

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Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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