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Ich forschte mehrere Jahre zum Thema nachhaltige Bodenbewirtschaftung in Tadschikistan. Wir haben einen partizipativen Ansatz ausprobiert, Doktoranden aus der Schweiz zusammen mit Doktoranden aus Entwicklungsländern. Ich hatte das Gefühl, wirklich einen Beitrag leisten zu können. Dann kam ich zurück in die Schweiz an die Uni, voll in den Karrierestress rein. Plötzlich galten andere Regeln: sich im Dschungel der Vorschriften bewegen, Networken, Gelder reinholen… Ich vermisste dieses Füreinander-Einstehen, das ich während meiner Feldforschung so geschätzt hatte. Ich fing an mit dem System zu hadern, der steilen Hierarchie, den unsicheren Anstellungsbedingungen, die es gar nicht zuliessen, dass sich Teams bilden konnten. Und den Widersprüchen in unserer Arbeit. Für zehn Tage nach Zentralasien fliegen, um den Menschen zu erzählen, sie sollen mehr Bäume pflanzen, das fand ich schwierig. Ich kam nicht nur beruflich, sondern auch privat an meine Grenzen, als unser Kinderwunsch nicht in Erfüllung ging. Ich merkte, ich muss jetzt einen Schritt machen, weg, auf die Alp…

Seit Anfang 2016 habe ich beim Aufbau der Genossenschaft Basimilch geholfen. Auf einem Bauernhof in Dietikon produzieren wir Milchprodukte und verteilen sie jede Woche an die Abonnentïnnen. Das war am Anfang ein riesiger Krampf. Aber ich war topmotiviert, bin voll im Projekt aufgegangen. Ich wollte unbedingt ein Team mitkreieren, füreinander da sein, nachhaltig sein, nicht im Sinn der grossen Worte, sondern beim wöchentlichen Quarkdeckel-Waschen oder Abpacken mit den vielen Freiwilligen.

Ich fühle mich freier, weil es hier noch Freiraum gibt, etwas Neues zu schaffen. Ich verdiene weniger, aber ich bin in einer komfortablen Situation, da ich vorher gut verdient habe. Das viele Geld war für mich damals eher Stress, man musste fast für ein verlängertes Wochenende nach Vals, teure Dinge tun, Kleider kaufen… Ich bin jetzt bodenständiger unterwegs. Während meiner Forschungsarbeit in andern Ländern fühlte ich mich immer sehr wohl, nicht zwischen hundert Produkten auswählen zu müssen, einfach auf dem Markt das zu kaufen, was Saison ist. Dieses Gefühl habe ich wiedergefunden.

Ich bin manchmal in einem Dilemma. Einerseits bin ich begeistert vom neuem Projekt, vom neuem Leben, den neuen sozialen Kontakten; und gleichzeitig fehlt mir ab und zu auch der sportliche Ehrgeiz der Karrierewelt. Manchmal muss ich mich vor mir selbst rechtfertigen, weshalb ich nicht an der Uni weitergemacht habe. Ich war eine der wenigen, die aus dieser Welt ausgestiegen sind. Einige Leute haben mir gesagt: du machst jetzt das, was ich mir schon lange überlegt, mich aber nie getraut habe.

Mein Leben ist jetzt vielseitiger. Ich habe neue Fähigkeiten gelernt, von denen ich gar nicht wusste, dass man sie haben kann. Handwerkliches zum Beispiel geniesse ich. Und ich geniesse es, dass man hier nicht ständig die eigene Sichtweise verkaufen muss, nicht für alles ein theoretisches Konzept im Kopf haben muss. Die Kunst der Wissenschaft, das war für mich damals ein Ideal. Aber ich habe mich recht verloren gefühlt. All diese angesehenen Leute, die immer die richtige Antwort haben auf die wichtigen Fragen. Es könnte ja auch sein, dass es nicht so eindeutig ist. Hier ist es klar: die Kühe müssen gemolken werden, ich schaue, wie es ihnen geht, ob sie richtig fressen. Alles geschieht aus einer realen Notwendigkeit heraus.

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Die meisten Geschichten entwickeln sich in einem Gespräch und wir schreiben sie auf. Manche Geschichten werden uns zugeschickt, auf Einladung oder spontan. Bislang haben wir die Geschichten nicht systematisch gesucht – sie ergeben sich durch spontane Kontakte, Empfehlungen und Zufälle.

Die Geschichten widerspiegeln nicht immer unsere Meinung; und die Geschichtenerzählerïnnen sind wohl auch nicht immer einer Meinung.

Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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