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Wir nehmen Menschen bei uns auf, wegen dem Asylrecht, aus christlichen Gründen, ja, aber das macht doch nur Sinn, wenn sie auch eine Arbeit haben, eine Familie aufbauen und ernähren können, zufrieden sind. Sprache ist der Schlüssel. Wenn du die Sprache nicht hast, klappt es hinten und vorne nicht. Man merkt aber schnell, dass nicht diejenige Person besser ankommt, die den Dativ vom Akkusativ unterscheiden kann, weiss, ob es der oder die Bank heisst, sondern die Person, die unsere Lebensweise versteht. Und dafür muss man sich verständigen können.

Wir machen Deutschkurse. Deutschkurs hört sich ja zuerst einmal ganz normal an, aber wir sind keine traditionelle Schule. Unsere Lehrer kommen freiwillig, die Schüler kommen freiwillig, wir haben keinen Lehrplan. Die Lehrerïnnen haben ihre eigenen Ansätze und die Schülerïnnen wählen sich einfach die Lehrkraft aus, die ihnen am meisten entspricht. Wir haben uns gesagt: warum soll der Samstag nicht mal anders sein? Wir versuchen das humorvoll zu machen, es ist immer wieder sehr, sehr lustig.

Ich habe eine eigene Firma für Venture Capital im Medizinbereich und kann nur schwierig deutsche Grammatik erklären. Sprechen, ja, aber nicht erklären. Meine einzige Chance ist, die Fortgeschrittenen zu unterrichten, mit denen kann ich Leseverstehen machen und diskutieren. Alle Fortgeschrittenen, die sich nicht hinsetzen und Grammatik lernen wollen, kommen zu mir. Und dann wird geredet, was ist in der letzten Woche passiert, jemand war auf der Rigi, welche Berge kennt ihr sonst, vollkommen flexibel. Wir lachen viel, wenn wir übers Essen diskutieren, der Eritreer isst fünf Eier am Tag und der Tibeter nur Gemüse und der Eritreer auf keinen Fall Gemüse. Was ist euer grösster Wunsch? Der Tibeter sagt, Liebe, Friede, Freunde, und der Eritreer sagt, ein Ferrari.

Ich mache das mit Inbrunst. Wir gehen zusammen die Bedürfnispyramide durch, was ist uns wichtig? Während Corona haben wir ja immer über Systemrelevanz gesprochen, aber was ist eigentlich systemrelevant? Post, Handy, Krankenhaus, Telefon, Strom, Lebensmittelläden… und dann sagen sie: Lebensmittelläden brauchts in meinem Land keinen, weil, man baut ja selbst Essen an. Oder: für was braucht’s bei mir zuhause ein Telefon, wen soll ich denn anrufen? Wir meinen mit Systemrelevanz Dinge, ohne die wir nicht leben können, und sie gucken dich mit grossen Augen an, natürlich geht das. Wir reden auch über schwierige Themen, aber nie über ihre Flucht, ausser sie sprechen das selbst an.

Ich merke, ich schätze durch die Tätigkeit das Eigene umso mehr. In einem Land zu leben ohne Krieg, ohne zerrissene Familien. Man merkt, dass unsere strukturierte Welt mit all den Regeln nur funktioniert, weil wir keine Sorgen haben, dass uns die Kinder weggenommen werden oder wie wir ohne Gepäck in ein Land kommen, das 5000 Kilometer entfernt ist.

Ich habe das Projekt von A bis Z aufgebaut. Als die grosse Flüchtlingswelle kam, habe ich der Kirchgemeinde vorgeschlagen, irgendetwas zu tun. Das fanden alle gut. Zuerst lief es schleppend, wir hatten mehr Lehrerïnnen als Schüler. Irgendwann hat es klick gemacht, Mundpropaganda eben. In den Spitzenzeiten nutzten wir sämtliche Räumlichkeiten der Kirchgemeinde. Und mittlerweile machen wir neben dem  Sprachunterricht noch viele andere Dinge, Mittagstisch, Exkursionen, administrative Hilfe, Weihnachtsgeschenke. Nur wenige Freunde verstehen die Intensität, mit der ich das mache. Wie, nach vier Jahren machst du das immer noch?

Ich helfe nicht nur anderen, ich tu mir etwas Gutes. Ich habe zwei Dinge, bei denen ich mich komplett entspanne. Wenn ich auf einem Pferd sitze und reite und wenn ich unterrichte. Du bist so bei den Menschen, du denkst an nichts anderes. Ich komme immer am Samstag nach Hause und am Nachmittag gehe ich mit meiner Frau im Wald spazieren. Ich erzähl ihr, du glaubst es nicht, was jetzt der gerade wieder gesagt hat. Mich baut das jeden Samstag so auf, was ich hier machen kann. Wir haben diesen Sommer einige Wochen im Engadin Urlaub gemacht. Immer Freitagabend oder Samstag morgens früh habe ich mich in den Zug gesetzt und bin nach Zürich, habe Unterricht gegeben und bin dann wieder ins Engadin zurück. Ich lasse den Samstag nicht ausfallen. Alles, was ich plane, plane ich um den Samstag herum. Der ist gesetzt.

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Die meisten Geschichten entwickeln sich in einem Gespräch und wir schreiben sie auf. Manche Geschichten werden uns zugeschickt, auf Einladung oder spontan. Bislang haben wir die Geschichten nicht systematisch gesucht – sie ergeben sich durch spontane Kontakte, Empfehlungen und Zufälle.

Die Geschichten widerspiegeln nicht immer unsere Meinung; und die Geschichtenerzählerïnnen sind wohl auch nicht immer einer Meinung.

Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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